Die Geschichte »Lost in Parkinghausen« von Laurentius Fisch.
Verfluchte Schalotte! Wie kann es sein, dass der verdammte Wecker schon jetzt klingelt?
Freitagmorgen, 7:45 Uhr.
Ich bin gefühlt gerade erst ins Bett gekrochen. Gegen vier Uhr müsste das gewesen sein, ich erinnere mich nicht genau. Das bedeutet, einer der dreizehn Caipirinhas war schlecht. Oder eines der Biere? Möglicherweise auch einer der Tequilas, die ich mir als Absacker gegönnt habe. Ich habe keine Erinnerung daran, wie ich mitten in der Nacht vom Stadtzentrum in meine Absteige gelangt bin. Möglich, dass ein Taxi beteiligt war.
Ich denke an den Kollegen, der noch benebelter war als ich. Wie er erfolglos probierte, mit dem Hoteltelefon seine Kreditkarte anzurufen. Danach der sinnlose Versuch, die Nummer einer Video 2000-Kundenkarte als Schlüsselcode einzutippen. Nach einigen Fehlschlägen fand er die richtige Nummer auf dem eingeweichten Hotelgutschein aus seiner Hosentasche. Aber seine motorischen Fähigkeiten reichten nicht mehr aus, um die Zahl korrekt in das dafür vorgesehene Tastenfeld einzutippen. Trotz meines Brummschädels muss ich schmunzeln.
Es ist eine großzügige Geste meines Arbeitgebers, allen Mitarbeitern während der Konferenz ein Zimmer zu bezahlen. Die Ausstattung der Unterkunft für asketische Spartaner spielt eine untergeordnete Rolle, da lediglich eine Liegefläche und ein Badezimmer erforderlich sind. Notfalls noch ein Kollege, der den Türöffner und das Schlüsselfach bedienen kann.
Das Gefährliche an der Luxus-Unterkunft ist die Kombination mit dem kostenlosen Alkohol während der Party, die zwischen den beiden Konferenztagen stattfindet.Traditionell glänzt am zweiten Tag eine größere Anzahl von Teilnehmern durch Abwesenheit – zuvorderst unser leuchtendes Vorbild, der Boss. Wie immer nutzt er seine Position in der Hierarchie, um seinen Vortrag frisch und munter direkt zu Beginn der Veranstaltung zu absolvieren.
Wahrscheinlich muss ich nicht erwähnen, dass mir dieses Glück nicht vergönnt ist – meine Präsentation soll heute stattfinden.
Verdammte Scheiße, fluche ich und torkle Richtung Badezimmer. Ich habe den Restalkohol drastisch unterschätzt und es gelingt mir gerade noch, unfallfrei zurück ins Bett zu plumpsen.Einziger Lichtblick ist das Notfallset, das ich am Vorabend auf dem Nachttisch platziert habe, bestehend aus acht Aspirin Plus C und einem Glas Wasser. Das Sprudeln der Tabletten in der schalen Flüssigkeit bereitet mir Schmerzen, viel zu laut ist das Geräusch. Feine Tröpfchen spritzen aus dem Behältnis auf mein Gesicht. Als sich das Blubbern beruhigt hat, reiße ich heroisch meinen Oberkörper nach oben und würge den Inhalt hinunter. An dieser Stelle verzichte ich auf eine Beschreibung des Geschmacks, ich bin froh, dass ich das grausame Gesöff bei mir behalten kann.
Mit geschlossenen Augen wäge ich meine Möglichkeiten ab:
- Das Wunder: Halbwegs nüchtern bis 9 Uhr auf der Konferenz erscheinen, nett mit den Kunden plaudern und um 13:00 Uhr meinen Vortrag halten.
- Mich krankmelden und nachfragen, ob das Zimmer einen weiteren Tag verfügbar wäre und einfach liegen bleiben.
- Die Zeit bis zum Check-out maximal ausnutzen und versuchen, bis zum Vortrag auf die Beine zu kommen. Die Präsentation halten, unauffällig verschwinden und den Rest des Programms sausen lassen.
- Unvermittelt durch einen glücklichen Zufall sterben.
Die erste Option erscheint mir unmöglich, die letzte will sich einfach nicht einstellen, auch wenn ich Mantra-mäßig den Wunsch nach einem vorzeitigen Ableben vor mich hin murmele. Eine Krankmeldung halte ich ebenfalls nicht für ideal, zu oft habe ich in der Vergangenheit Arbeitskollegen wegen deren Unzuverlässigkeit beim Chef angezündet. Dies gilt insbesondere für Jean-Marie, meinen Partner bei der Präsentation. Er zeichnet sich dadurch aus, pro Woche drei bis fünf Tage wegen der Betreuung seines Sohns von zu Hause aus zu „arbeiten“. Als wäre das mit einem kranken Kleinkind auch nur entfernt möglich. Allerdings hat mir Jean-Marie bis jetzt keine seiner Folien zu seinem Teil des Vortrags gezeigt, obwohl er die letzten sechs Wochen ausschließlich daran gearbeitet haben will. Ich stelle den Wecker auf 10:56 Uhr, meiner Erinnerung nach muss ich das Hotelzimmer bis 12 Uhr verlassen.
10:56 Uhr. Ich stelle den Wecker auf 11:23. Eine Katzenwäsche wird genügen.
11:39 Uhr. Ich torkle in Richtung Badezimmer …
11:44, die Katzenwäsche ist beendet. Geistige Beweglichkeit war immer meine Stärke, deshalb aktualisiere ich den Plan. Vor dem Haupteingang befinden sich freie Parkplätze. Ich werde das Auto aus der Tiefgarage fahren und vor das Hotel stellen. Anschließend hole ich mein Zeug aus dem Zimmer und ruhe einige Minuten im Wagen, bevor ich mich auf den Weg mache.
11:53 Uhr. Ich marschiere aus dem Hotel und versuche, mein verrücktes Vorhaben umzusetzen.
Aber wo befindet sich der vermaledeite Zugang zur Tiefgarage? Gestern war er noch da, daraus ergibt sich messerscharf, dass er nicht über Nacht verschwunden sein wird.
Ich bin durch die Zufahrt mit dem Auto hinein, herausgekommen bin ich aus einem Türchen in einem der umliegenden Gebäudekomplexe.
Die pragmatischste Lösung wäre, die Fahrbahn hinunterzulaufen. Doch diese ist mit einem Gittertor gesichert, das mit dem Parkticket geöffnet werden kann. Der Wisch befindet sich im Handschuhfach meines Autos, irgendwo in den Gedärmen der Häuserschluchten.
An einer der Häuserfronten entdecke ich ein Schild mit einem P. Ich schätze, dass der Buchstabe P für Parkplatz steht – aber wo ist der Eingang?
Das Glück ist mir ausnahmsweise hold – eine Dame mit elegantem Aktenkoffer steuert zielstrebig den Bereich unterhalb des verheißungsvollen Wegweisers an. Ich folge unauffällig.
Bevor die Tür ins Schloss fällt, husche ich hindurch und steige zu der Frau in den Lift. Sie blickt mich freundlich an und sagt etwas auf Französisch. Ich verstehe nur Bahnhof, lächle so herzlich zurück, wie es meine Kopfschmerzen zulassen, und vertraue darauf, dass die Wirkung des Aspirins bald einsetzt. Der Aufzug kommt zum Stehen, wir steigen aus und treten – halleluja – durch eine weitere Tür ins Parkhaus. Mein französischer Rettungsengel verabschiedet sich höflich und eilt zielstrebig einem geparkten Audi entgegen.
Am Vortag hatte ich die Idee, meine Parkplatznummer auf einen Zettel zu kritzeln und ihn in meine Brieftasche zu stecken. Dieser geniale Schachzug ist von unschätzbarem Wert, weil ich gerade bemerkt habe, dass ich mein Handy im Zimmer vergessen habe, zusammen mit meiner Lesebrille. Während ich den zerknitterten Schmierzettel mit der Zahl 337 studiere,
braust die Französin schnittig an mir vorbei und verlässt das Parkdeck, nicht ohne mir freundlich zuzuwinken. Ich erwäge, meine Vorurteile gegen französische Erdbewohner zu überdenken, aber nach einem Gedanken an Jean-Marie verwerfe ich die absurde Idee.
Berauscht von der Schnitzeljagd beginne ich, meinen Wagen zu suchen. Trotz der Größe des Parkdecks bin ich überrascht von den niedrigen Nummern der Parkplätze. Sechzehn, murmle ich. Nach einem Marsch mit drei Umrundungen dämmert mir, dass hier keine Drei-Drei-Sieben zu finden ist. Mein Auto muss auf einer anderen Etage stehen. Bei genauerer Betrachtung der Umgebung erscheint sie mir auch anders als am Vortag. Die Nummern, die Farben und die Anordnung sind unterschiedlich.
Die Zeit drängt. Das Aspirin beginnt zu wirken, und ich hopple in Richtung der Tür, wo das Labyrinth seinen Ausgangspunkt hat. Ich werde mich auf den Weg nach oben machen und nach dem richtigen Zugang suchen. Aber die Metalltür ist lediglich mit einem Knauf ausgestattet, zudem ist sie verschlossen. Offensichtlich bin ich nicht nur auf der falschen Ebene, sondern im vollkommen falschen Parkhaus gelandet.
Was tun? An das andere Ende latschen, dort muss es einen weiteren Eingang geben. Wie ich es von mir gewohnt bin, ist meine Annahme korrekt und gegenüber gibt es in einer Nische einen alternativen Zugang. Das erfolglose Zerren am Metallknauf bestätigt, dass auch dieser verschlossen ist.
Die Stille wirkt unheimlich, da niemand unterwegs ist. Ich frage mich, ob sich ein Atomschlag ereignet hat und ich das als einer der wenigen nicht bemerkt habe. In dem Fall wäre es schnurz, ob mein Vortrag stattfindet. Vielleicht sollte ich mich gemütlich unter ein Auto legen, meinen Rausch ausschlafen und von Wolf-Rüdiger träumen.
Doch mein Körper ist mit Adrenalin geflutet – was zumindest die Folgen des Vollrausches lindert. Mir bleibt kaum Zeit, mich aus dem Gefängnis zu befreien, das Auto zu finden, mein Gepäck aus dem Zimmer zu holen und den Weg zur Veranstaltung zurückzulegen. Jean-Marie versucht bestimmt verzweifelt, mich zu erreichen.
Mir kommt eine geniale Idee: Ich werde die Ausfahrt benutzen! Ich sprinte die gewundene Fahrbahn entlang und inspiziere das Metalltor. Aber dieses lässt sich nur mit dem Ticket oder einem manuellen Zutrittsregler, im Volksmund Schlüssel genannt, öffnen. Die Einfahrt ist ebenfalls verschlossen und wird zudem durch einen deckenhohen Zaun von meiner Fahrbahn getrennt. Aber erneut ist Licht am Ende des Tunnels, denn in diesem Moment öffnet sich das Tor auf der anderen Seite und ein voll besetzter Wagen entert die Dunkelkammer des Grauens.
Klar ist, dass ich es nicht rechtzeitig zur offenen Seite schaffe. Doch aus einem undefinierbaren Grund bin ich überzeugt, dass die Neuankömmlinge hilfsbereite Menschen sind. Womöglich Franzosen? Ich sprinte los und verfolge das Fahrzeug. Währenddessen brülle ich HILFE, HILFE. Zugegeben, durch die höhlenartige Architektur meines Verlieses mag das furchterregend klingen.
Das Auto beschleunigt und biegt mit quietschenden Reifen um die Ecke, während aus der Heckscheibe zwei furchtsame Augenpaare das Monster im Schacht hinter sich fixieren. Gerade möchte ich einen Fluch hinterherschicken, da werde ich um ein Haar von einem anderen Wagen überfahren. In letzter Sekunde springe ich zur Seite und quetsche mich an die Betonwand. Hätte man mir vor einer Stunde gesagt, dass ich heute den Höhepunkt meiner sportlichen Laufbahn erreichen würde, hätte ich diesen Menschen für irre gehalten.
Es gelingt mir erneut, den Turbo zu aktivieren, und wie durch ein Wunder schaffe ich es, mich unter dem schließenden Gitter durchzurollen.
Eine Gruppe von Passanten blickt erstaunt auf den verdreckten Mann aus der Garage. Spätestens, als ich schreie: FREI, ich bin FREI!
Ein Tourist mit Fotoapparaten um den Hals lässt sich von seiner Begleiterin ablichten. Dabei brüllt er: VRAI,icke binne VRAI! Danach kichern beide, ich spare mir die Kraft und winke mit einem diabolischen Grinsen.
Ich sehe auf die Uhr: 12:27 Uhr. Solange ich rechnerisch eine Chance habe, werde ich auf keinen Fall aufgeben. Ich beschließe, die Frist für das Zimmer zu ignorieren und sprinte einige hundert Meter bis zur nächsten Tramstation.
12:41 Uhr: Kurz vor dem Ziel. Ich bin schmutzig, meine Haare und mein Hemd sind klatschnass. In diesem Aufzug kann ich keinem Kollegen und noch weniger einem Kunden unter die Augen treten.
Zum Glück endet der Weg mit der Straßenbahn auf der Einkaufsmeile, ich muss mich lediglich beeilen. Eine Tascheninventur ergibt einen Bargeldbestand von 2 EURO und 83 Cent. Meine Brieftasche befindet sich zusammen mit dem Handy im Hotelzimmer. Fünfzig Meter weiter entdecke ich einen Billigheimer!
12:59 Uhr. Friedlieb Usain Holebier reißt die Eingangstür auf, bekleidet mit einem pinken Hello Kitty T-Shirt und der dazu passenden Pudelmütze. In der Hosentasche befindet sich ein EURO Restgeld. Als wäre ich mein Leben lang nüchtern geblieben, sprinte ich in Richtung des großen Saals. Wie immer ist es wichtig, die richtigen Prioritäten zu setzen. Daher nehme ich wenig Rücksicht auf dumm im Weg stehendes Gesindel und ignoriere die Blicke wegen meines Aufzugs.
13:00 Uhr. Mit einem Lächeln springe ich auf die Bühne, auf der mein Mitpräsentator steht. Die Silhouette lässt sich aufgrund der Scheinwerfer nur erahnen, doch ich bin überzeugt, dass Jean-Marie in diesem Moment ein Stein vom Herzen fällt. Zur Auflockerung recke ich einen Arm in die Höhe und forme mit den Fingern das Zeichen für Frieden. Später wird man mich darauf hinweisen, dass es von unten ausgesehen hat, als ob ich dem Kollegen Hasenohren aufsetzen wollte.
Als ich realisiere, dass ich nicht neben Jean-Marie stehe, verschwindet das künstliche Grinsen mit einem Schlag aus meinem Gesicht.
Was ist los? Wo ist Jean-Marie? Der Mann, der mich fassungslos anstarrt, ist mir lediglich aus dem Programmheft bekannt. Trotz aller Hindernisse bin ich fest davon überzeugt, dass mein Vortrag um 13:00 Uhr geplant war. Im Publikum herrscht inzwischen heitere Stimmung.
Ich schleiche verwirrt von der Bühne und werde von meiner Kollegin Annemarie aufgeklärt: Hat man dir nicht Bescheid gegeben? Jean-Marie hat abgesagt, weil sein Kind plötzlich krank geworden ist. Wir haben das Publikum darüber abstimmen lassen, ob es dich lieber alleine hören möchte oder ob wir den Slot streichen sollen. Etwa 98 Prozent der Anwesenden haben …
Barsch hebe ich die Hand, um Annemaries Redefluss zu unterbrechen. Ich will nicht hören, dass sich niemand für mein Thema interessiert. Also hat Jean-Marie erneut gekniffen. Am Montag werde ich die Folien des französischen Kindergärtners verlangen. Ich bin bereits jetzt gespannt, warum das nicht möglich sein wird.
Die Konferenz ist drei Stunden später zu Ende und der Spuk ist vorbei. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt, dass sich Kollegen und Kunden über meinen Aufzug amüsieren. Am Ende tritt schließlich der Chef aus der Versenkung hervor.
Mensch, Friedlieb. Dein Auftritt war der Knaller – zu blöd, dass ich das nicht live mitbekommen habe. Auf YouTube geht das Ding ab wie ein Zäpfchen. In den kühnsten Träumen hätten wir uns nicht so viel kostenlose Werbung vorstellen können. Saubere Leistung! Nächstes Mal schauen wir vorher, in welcher Aufmachung wir dich auf die Bühne springen lassen. Vielleicht als pinkfarbenes Einhorn oder mit dem Logo der Konkurrenz und ich werde dich dann mit einem Flammenwerfer beschießen. Die Jungs von Rammstein werden gegen uns wie Waisenknaben aussehen. Das müssten wir dann aber am ersten Tag machen. Oder …
Ich mache ein freundliches Gesicht, klappe die Ohren zu, wackle gelegentlich mit dem Kopf und warte, bis der Boss weiterzieht. Wie auch immer die Sause im kommenden Jahr ablaufen wird, ich werde zu Hause übernachten. Denn ich habe meine Lektion gelernt.
Mir fällt auf, dass die Bar draußen vor dem Haupteingang geöffnet ist. Vielleicht kann ich noch ein oder zwei Bierchen trinken, bevor ich nach Hause fahre …
Hinweis: Dieser Tatsachenbericht ist vor längerer Zeit entstanden. Heute würde Mann unter keinen Umständen eine Person verfolgen, die man früher eindeutig dem weiblichen Geschlecht zugeordnet hätte. Auch eine Liftkabine würde Mann unter den geschilderten Bedingungen nicht mehr betreten.
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