Zeitenwende
Eine unerwartete Bühne. Ein Mann, der improvisiert. Und ein System, das plötzlich genau das braucht. Was gestern noch Wahnsinn war, klingt heute nach Staatsräson.
ZEITENWENDE – Eine Geschichte über Macht und Medien. Und darüber, wie schnell die Wahrheit geknebelt wird – wenn’s nur gut genug ins Programm passt.
Das Klopfen an der Tür unterbricht meine innere Reise. »Kommst du? Die Leute warten.« Es ist die Stimme meiner Assistentin.
Ich streiche mein schneeweißes Hemd glatt und steuere auf den Ausgang zu. Meinen Vortrag werde ich frei halten, ohne Notizen. So wie es den Profis vorbehalten ist. Als ich die Tür öffne, huscht ein nachsichtiges Lächeln über mein Gesicht. Nadeschda ist erst seit kurzem dabei. Ich bin überzeugt, dass sie bald erhebliche Fortschritte machen wird. Es gehört zu meinen Stärken, das Potenzial meiner Mitarbeiterinnen kontinuierlich zu maximieren. Zielstrebig folge ich Nadeschda mit ein paar Schritten Abstand. Ich merke, wie ich auf ihre langen Beine schiele, danke meinem beobachtenden Ich und sammle mich. Aus einem Nebenraum dringt das Brüllen von Saffiwusch in mein Ohr. Seit der endgültigen Schließung seiner Station leidet er unter heftigen Stimmungsschwankungen. An gemeinsame Auftritte ist schon lange nicht mehr zu denken. Achtsam unterdrücke ich die Anspannung wegen des Lärms und verstärke mein Lächeln. Ich bin überzeugt, dass Saffiwusch eines Tages zur Vernunft kommen und mir dankbar sein wird. Dank meiner finanziellen Möglichkeiten erhält er die notwendige medizinische Unterstützung. Sobald wir eine neue Vortragsreihe zu einem brisanten Thema gestalten, mache ich ein paar Vorab-Termine zum Aufwärmen. Erst wenn der Inhalt sitzt und alle Kanten abgeschliffen sind, nehme ich die großen Veranstaltungsorte ins Visier. Bei den Proben bin ich nicht zimperlich, es geht mir darum, den Stoff auf seine Wirkung beim Publikum zu testen. Dafür nehme ich, wie heute, auch zweit- oder drittklassige Veranstaltungen in Kauf. Ich bin froh, dass die Testphase bald vorbei ist. In den letzten Wochen habe ich so viele Probeauftritte gehabt, dass ich manchmal vergesse, wo ich gerade bin. Der Vortrag an diesem Nachmittag kam spontan zustande, alles musste blitzschnell gehen. Immerhin wurde ich erster Klasse eingeflogen. So einen Luxus habe ich nicht alle Tage, und die Gage liegt deutlich über dem üblichen Satz. Trotzdem freue ich mich auf den Beginn der regulären Tour, wenn die Struktur der Vorträge steht.
»Nadeschda, wie sieht es mit der Reservierung des Hallenstadions aus?«
»Wir haben leider noch keine Bestätigung.«
»Vielleicht trifft sich das ganz gut. Ich habe mir überlegt, statt kurz vor Weihnachten ins Hallenstadion zu gehen, könnten wir im Frühsommer für drei Tage ins Letzigrund wechseln. Von Freitag bis Sonntag. Bitte frühzeitig anfragen, solche Termine müssen rechtzeitig geplant werden.«
»Wird gemacht. Die Anfrage geht morgen raus.«
»Ich bin froh, dass wir bald mit den Proben durch sind. Es wird Zeit, dass wir aus den dunklen Löchern herauskommen«, sage ich, um die Anspannung vor dem Auftritt abzubauen. Nadeschda dreht sich überrascht um.
»Heute ist keine Probe. Du hältst ein Impulsreferat für den Kunden.«
»Ach natürlich, richtig. Zu wenig Koffein, schätze ich.«
Tatsächlich habe ich keine Ahnung, um was für ein Referat es sich handeln könnte. Da hätte es mir auch nichts genutzt, wenn ich vor lauter Hektik meine Unterlagen NICHT zu Hause vergessen hätte.
»Thema ist das übliche?«, frage ich vorsichtig.
Meine Assistentin lacht. »Die Damen und Herren interessiert sicher nicht, wer vor einigen Jahrzehnten in den Staaten ein Gebäude in die Luft gesprengt hat. Es geht darum, wie die Regierung dazu beigetragen hat, den Konflikt zwischen Gnawatsch-Mulleputanien und Murkledonien zu beenden. Die Anwesenden möchten deine Ausführungen und Erklärungen dazu hören.«
»Ausführungen?«, frage ich, ohne mir meine Unsicherheit anmerken zu lassen.
»Sie wollen deine Story hören, was wirklich dahinter steckte, als der Krieg plötzlich zu Ende war.«
»Nadeschda, ich bin Wissenschaftler und halte mich streng an die Fakten. Von Story kann da keine Rede sein!« Ich atme dreimal lange tief ein und aus.
»Dann ist ja alles klar. Dein Publikum wartet.« Nadeschda schiebt ihren Kaugummi von einer Backentasche in die andere.
Widerwillig gestehe ich meinem achtsamen Ich, dass ich mich am liebsten ganz schnell verkrümeln würde. Obwohl ich ein Institut leite, das sich dem Namen nach unter anderem mit Krieg und Frieden beschäftigt, habe ich das heutige Wunschthema noch nicht historisch korrekt erforscht. Doch mir ist klar, dass es für Ausreden zu spät ist. Dafür nehme ich mir vor, mich in den nächsten Tagen mit einer Wanderung mit Saffiwusch im Schwarzwald zu belohnen. Letztes Jahr sind wir gemeinsam den Spuren des damaligen Oppositionsführers von Gnawatsch-Mulleputanien gefolgt, der sich nach einem feigen Giftanschlag für einige Monate in den Schwarzwald zurückgezogen hatte. Wir erreichen den Saal. Entgegen der Anweisung auf dem Merkblatt, das ich an alle Mitarbeiterinnen verteile, wird mein Erscheinen nicht fachkundig eingeleitet. Stattdessen befinde ich mich sofort in einem Raum mit einfachen Zuhörern. Ich verstärke das Lächeln, das zu meinem Markenzeichen geworden ist. Nicht zuletzt wegen der Plakate, auf denen ich für den Impfstoff eines Pharmariesen werbe. Unauffällig lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Für einen kurzen Moment bin ich enttäuscht über die zahlenmäßige Resonanz. Angesichts des Honorars hätte ich erwartet, dass viele Menschen von meinem Wissen profitieren würden. Mir wird klar, wie wichtig die Ankündigung des Redners gewesen wäre. Mein plötzliches Erscheinen in den Reihen der Zuhörer lässt keine Begrüßungseuphorie aufkommen. Seit dem Gespräch mit Nadeschda weiß ich, dass ich beim Thema improvisieren muss. Für einen Moment schließe ich die Augen, um mich zu zentrieren. Vor meinem inneren Auge erscheinen majestätische Tannen in einer malerischen Schwarzwaldlandschaft. Kurz darauf Saffiwusch, der wie ein Schimpanse auf einem Baumstumpf hockt und gierig in eine Salami beißt, ohne vorher die weiße Pelle abzumachen. Erschrocken reiße ich die Augen auf.
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