Zeitenwende
Eine unerwartete Bühne. Ein Mann, der improvisiert. Und ein System, das plötzlich genau das braucht. Was gestern noch Wahnsinn war, klingt heute nach Staatsräson.
ZEITENWENDE – Eine Geschichte über Macht und Medien. Und darüber, wie schnell die Wahrheit geknebelt wird – wenn’s nur gut genug ins Programm passt.
Das Klopfen an der Tür unterbricht meine innere Reise. »Kommst du? Die Leute warten.« Es ist die Stimme meiner Assistentin.
Ich streiche mein schneeweißes Hemd glatt und steuere auf den Ausgang zu. Meinen Vortrag werde ich frei halten, ohne Notizen. So wie es den Profis vorbehalten ist. Als ich die Tür öffne, huscht ein nachsichtiges Lächeln über mein Gesicht. Nadeschda ist erst seit kurzem dabei. Ich bin überzeugt, dass sie bald erhebliche Fortschritte machen wird. Es gehört zu meinen Stärken, das Potenzial meiner Mitarbeiterinnen kontinuierlich zu maximieren. Zielstrebig folge ich Nadeschda mit ein paar Schritten Abstand. Ich merke, wie ich auf ihre langen Beine schiele, danke meinem beobachtenden Ich und sammle mich. Aus einem Nebenraum dringt das Brüllen von Saffiwusch in mein Ohr. Seit der endgültigen Schließung seiner Station leidet er unter heftigen Stimmungsschwankungen. An gemeinsame Auftritte ist schon lange nicht mehr zu denken. Achtsam unterdrücke ich die Anspannung wegen des Lärms und verstärke mein Lächeln. Ich bin überzeugt, dass Saffiwusch eines Tages zur Vernunft kommen und mir dankbar sein wird. Dank meiner finanziellen Möglichkeiten erhält er die notwendige medizinische Unterstützung. Sobald wir eine neue Vortragsreihe zu einem brisanten Thema gestalten, mache ich ein paar Vorab-Termine zum Aufwärmen. Erst wenn der Inhalt sitzt und alle Kanten abgeschliffen sind, nehme ich die großen Veranstaltungsorte ins Visier. Bei den Proben bin ich nicht zimperlich, es geht mir darum, den Stoff auf seine Wirkung beim Publikum zu testen. Dafür nehme ich, wie heute, auch zweit- oder drittklassige Veranstaltungen in Kauf. Ich bin froh, dass die Testphase bald vorbei ist. In den letzten Wochen habe ich so viele Probeauftritte gehabt, dass ich manchmal vergesse, wo ich gerade bin. Der Vortrag an diesem Nachmittag kam spontan zustande, alles musste blitzschnell gehen. Immerhin wurde ich erster Klasse eingeflogen. So einen Luxus habe ich nicht alle Tage, und die Gage liegt deutlich über dem üblichen Satz. Trotzdem freue ich mich auf den Beginn der regulären Tour, wenn die Struktur der Vorträge steht.
»Nadeschda, wie sieht es mit der Reservierung des Hallenstadions aus?«
»Wir haben leider noch keine Bestätigung.«
»Vielleicht trifft sich das ganz gut. Ich habe mir überlegt, statt kurz vor Weihnachten ins Hallenstadion zu gehen, könnten wir im Frühsommer für drei Tage ins Letzigrund wechseln. Von Freitag bis Sonntag. Bitte frühzeitig anfragen, solche Termine müssen rechtzeitig geplant werden.«
»Wird gemacht. Die Anfrage geht morgen raus.«
»Ich bin froh, dass wir bald mit den Proben durch sind. Es wird Zeit, dass wir aus den dunklen Löchern herauskommen«, sage ich, um die Anspannung vor dem Auftritt abzubauen. Nadeschda dreht sich überrascht um.
»Heute ist keine Probe. Du hältst ein Impulsreferat für den Kunden.«
»Ach natürlich, richtig. Zu wenig Koffein, schätze ich.«
Tatsächlich habe ich keine Ahnung, um was für ein Referat es sich handeln könnte. Da hätte es mir auch nichts genutzt, wenn ich vor lauter Hektik meine Unterlagen NICHT zu Hause vergessen hätte.
»Thema ist das übliche?«, frage ich vorsichtig.
Meine Assistentin lacht. »Die Damen und Herren interessiert sicher nicht, wer vor einigen Jahrzehnten in den Staaten ein Gebäude in die Luft gesprengt hat. Es geht darum, wie die Regierung dazu beigetragen hat, den Konflikt zwischen Gnawatsch-Mulleputanien und Murkledonien zu beenden. Die Anwesenden möchten deine Ausführungen und Erklärungen dazu hören.«
»Ausführungen?«, frage ich, ohne mir meine Unsicherheit anmerken zu lassen.
»Sie wollen deine Story hören, was wirklich dahinter steckte, als der Krieg plötzlich zu Ende war.«
»Nadeschda, ich bin Wissenschaftler und halte mich streng an die Fakten. Von Story kann da keine Rede sein!« Ich atme dreimal lange tief ein und aus.
»Dann ist ja alles klar. Dein Publikum wartet.« Nadeschda schiebt ihren Kaugummi von einer Backentasche in die andere.
Widerwillig gestehe ich meinem achtsamen Ich, dass ich mich am liebsten ganz schnell verkrümeln würde. Obwohl ich ein Institut leite, das sich dem Namen nach unter anderem mit Krieg und Frieden beschäftigt, habe ich das heutige Wunschthema noch nicht historisch korrekt erforscht. Doch mir ist klar, dass es für Ausreden zu spät ist. Dafür nehme ich mir vor, mich in den nächsten Tagen mit einer Wanderung mit Saffiwusch im Schwarzwald zu belohnen. Letztes Jahr sind wir gemeinsam den Spuren des damaligen Oppositionsführers von Gnawatsch-Mulleputanien gefolgt, der sich nach einem feigen Giftanschlag für einige Monate in den Schwarzwald zurückgezogen hatte. Wir erreichen den Saal. Entgegen der Anweisung auf dem Merkblatt, das ich an alle Mitarbeiterinnen verteile, wird mein Erscheinen nicht fachkundig eingeleitet. Stattdessen befinde ich mich sofort in einem Raum mit einfachen Zuhörern. Ich verstärke das Lächeln, das zu meinem Markenzeichen geworden ist. Nicht zuletzt wegen der Plakate, auf denen ich für den Impfstoff eines Pharmariesen werbe. Unauffällig lasse ich meinen Blick durch den Raum schweifen. Für einen kurzen Moment bin ich enttäuscht über die zahlenmäßige Resonanz. Angesichts des Honorars hätte ich erwartet, dass viele Menschen von meinem Wissen profitieren würden. Mir wird klar, wie wichtig die Ankündigung des Redners gewesen wäre. Mein plötzliches Erscheinen in den Reihen der Zuhörer lässt keine Begrüßungseuphorie aufkommen. Seit dem Gespräch mit Nadeschda weiß ich, dass ich beim Thema improvisieren muss. Für einen Moment schließe ich die Augen, um mich zu zentrieren. Vor meinem inneren Auge erscheinen majestätische Tannen in einer malerischen Schwarzwaldlandschaft. Kurz darauf Saffiwusch, der wie ein Schimpanse auf einem Baumstumpf hockt und gierig in eine Salami beißt, ohne vorher die weiße Pelle abzumachen. Erschrocken reiße ich die Augen auf.

»Guten Abend zusammen. Mein Name ist …«
»Guru, du bist der Guru. Ich weiß nicht, warum wir uns das anhören müssen«, quäkt es von hinten. Unter Druck funktioniere ich am besten. Kühl wie eine Hundeschnauze fahre ich fort.
»Wie Sie wissen, bin ich Historiker und Friedensforscher, schreibe Bücher und halte Vorträge. Ich freue mich, dass Sie so zahlreich erschienen sind. Zuletzt habe ich eine Reihe von Vorträgen über den völkerrechtswidrigen Putsch der U-SA gehalten, der in der Folge zum Stellvertreterkrieg in Murkledonien geführt hat.«
Bei »U-SA«, der Abkürzung für »Unlimited Source of Aggression«, habe ich mir angewöhnt, den Begriff auf dem »U« zu betonen.
»Heute wenden wir uns einem anderen, äh, drängenden Aspekt des Themas zu. Nicht dem Anfang, sondern dem Ende. Wir zäumen den Esel sozusagen von hinten auf, nur ohne Karotte.« Ich schweige und schaue in die Runde. Niemand lacht über meinen Scherz.
»Zur Unterfütterung lege ich Ihnen wärmstens mein neuestes Buch ans Herz. Sollten meine Mitarbeiterinnen es aufgrund der enormen Nachfrage nicht vorrätig haben, können Sie es online in meinem Shop bestellen.«
Für eine Millisekunde verliere ich den Faden. Mir schwirrt die Frage im Kopf herum, ob das »Kriegsbuch«, das schon einige Jahre auf dem Buckel hat, überhaupt noch lieferbar ist. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob der Inhalt für die heutige Zielgruppe relevant ist.
Hundeschnauze, denke ich. Dabei habe ich das Bild von Jebsen vor Augen, unserem Collie-Dackel-Mischling.
»Gerne beantworte ich nach dem Vortrag persönlich alle Fragen und signiere Bücher. Ich stehe auch für Selfies zur Verfügung, falls Sie vorhaben, Ihre Karriere endgültig zu ruinieren.«
Mein Lächeln gerät zur Anstrengung, als ich in die Reihen der Zuhörer blicke. Ausnahmslos scheint es sich um grimmige Vertreter ihrer Art zu handeln. Die wenigen Damen im Kostüm, die Herren in Anzug und Krawatte. Mir fällt ein auffallend kleiner Mann mit windschnittiger Frisur auf, der in der ersten Reihe sitzt und mir als einziger ein aufmunterndes Lächeln schenkt. Die anderen sehen aus, als hätten sie Wichtigeres zu tun. Ein Herr mit grauem Stoppelhaar hat eine Flasche Weißwein samt zugehörigem Glas vor sich stehen. Ein anderer ruft ihm zu: »Gib mir die Flasche, Wolfgang! Mein Aluhut braucht neuen Füllstoff!«
Obwohl ich mich von den Mainstream-Medien weitestgehend fern halte und die dort verbreiteten Fake-News ignoriere, erkenne ich den Mann aus der ersten Reihe. Es ist Marquart Blöbaum, der Regierungschef des bis vor wenigen Jahren wirtschaftlich stärksten Landes Europas. Bevor die Regierung fatalerweise beschloss, den wichtigsten Energielieferanten zu sanktionieren. Zu meinem Glück beendet Blöbaum die Unruhe mit einem scharfen Blick in die Runde. Ich verfluche Nadeschda. Zugegeben, es fällt mir leicht, aus dem Stegreif einen brillanten Vortrag zu einem meiner Standardthemen zu halten. Aber auf eine Präsentation vor der Regierung eines Landes hätte ich mich gerne ein wenig vorbereitet. Ich entdecke keinen Verkaufsstand. Sollte sich herausstellen, dass Nadeschda vergessen hatte, den Büchertisch aufbauen zu lassen, würde ich sie schnell ersetzen müssen. Im Halbdunkel der letzten Reihe fällt mir ein einsamer Zuhörer auf, der mir bekannt vorkommt. Er sticht mir ins Auge, denn einen Maskierten habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Ist das nicht der ehemalige Gesundheitsminister, der sich sein Amt während der ersten Pandemie durch ständige Teilnahme an Talkshows »erarbeitet« hatte? Was macht der hier? Er war schon vor Jahren durch eine »Young Leaderin« des World Economic Forums ersetzt worden, die zuvor in leitender Position bei Gates-Pfizer-Novartis gearbeitet hatte. Als Minister hatte er bei Vor-Ort-Terminen in Impfzentren den Fehler begangen, sich als vertrauensbildende Maßnahme vor aller Augen selbst impfen zu lassen. Es gibt Gerüchte, dass der so immunisierte Minister nach der 47. Impfung völlig den Verstand verloren habe. Andere sagen, er sei immer so gewesen. Mit dem Unterschied, nach all den Spritzen über 200 Allergien entwickelt zu haben. Und mit einem künstlichen Darm zu leben. Er hätte es nur nicht verkraftet, nach dem Abklingen der ersten Viruswelle seinen Privatraum bei der Produktion der populärsten Talkshow verloren zu haben. Der Maskenmann hält einen Zauberwürfel in der Hand. Ich beobachte, wie er eines der Quadrate herausbricht und es zu meinem Erstaunen unter die Maske schiebt und verschluckt. Er wiederholt diesen unwirtlichen Vorgang noch zwei weitere Male. Ich wende mich ab und vermeide es, weiter in die Richtung der armen Kreatur zu blicken. An den Gerüchten scheint etwas dran zu sein.
»Langweilig!«, schreit es von hinten.
»Hundeschnauze«, sage ich – versehentlich laut.
Die Zuhörer schauen mich verwundert an, verstummen aber und konzentrieren sich von nun an auf mich. Ich nehme mir vor, diesen Trick fest in den Werkzeugkasten meiner 102 wichtigsten Achtsamkeitstechniken zu integrieren. Komischerweise fällt mir in diesem Moment ein, wann ich das letzte Mal vor einer so unkonzentrierten Gruppe stand. Es war im Kindergarten meines Sohnes gewesen, als ich im Rahmen des Elternbeitrags einen Bildvortrag über Einzeller hielt. Mein beobachtendes Ich meldet sich zu Wort. Warum soll ich mir mühsam einen passenden Vortrag aus den Fingern saugen, wenn sich die infantile Meute ohnehin nicht für den Inhalt interessiert? Im Kindergarten hatte es funktioniert, indem ich meine Präsentation beendete und stattdessen mit den Kindern Lego-Schlacht spielte. Dumm nur, dass der kleine Roderich dabei ein Auge verlor. Seitdem bin ich von solchen Verpflichtungen befreit. Glücklich über den kosmischen Hinweis beschließe ich, mir irgendeine absurde Geschichte auszudenken und vorzutragen. Ich weigere mich, Perlen vor die Säue zu werfen. Obwohl ich alle Mitglieder der Menschheitsfamilie in mein Herz geschlossen habe, denke ich, dass diese besonderen Menschen es nicht anders verdient haben.
»Heute spreche ich über den wahren Grund für die Beendigung des völkerrechtswidrigen Stellvertreterkrieges der U-SA. Ich verspreche Ihnen eine SENSATION. Entgegen der von den Mainstream-Medien verbreiteten Erzählung ist ein geheimer Umstand für die Einstellung des sinnlosen Gemetzels verantwortlich. Haben Sie eine Ahnung, wie die Sache tatsächlich abgelaufen ist?«
Ich lasse die Spannung im Raum auf mich wirken. Die Blicke der meisten Anwesenden sind auf mich gerichtet. Nur Nadeschda lehnt hinten an der Wand und versucht vergeblich, ein Gähnen zu verbergen. Sie bemerkt nicht, wie der Weißweintrinker neben ihr mit gerötetem Gesicht auf ihren Hintern starrt. Ich schweige einen Moment, um den Zuhörern die Möglichkeit zu geben, sich aktiv an der Diskussion zu beteiligen.
»Hauptsache, wir finden noch ein Fässchen Öl, damit der Christian weiter mit seiner Möhre aus Zuffenhausen über die Autobahn rasen kann!«, ruft es mit bayerischem Dialekt aus dem Halbdunkel.
»Ach, der scheinheilige Panzer-Toni. Apropos Möhre. Meinst du, dein stinkender Traktor zum Anbau von ökologisch garantiert inkorrektem Bio-Futter verpestet die Luft weniger?«, schreit jemand.
»Der Verteidigungsminister hat keine Zeit, mit dem Trecker durch die Gegend zu zuckeln«, giftet der Angesprochene zurück. Der halbe Saal lacht sich schlapp, der »Chef« mahnt zur Ruhe. Es fällt mir immer schwerer, die Heiterkeit des Publikums zu ignorieren. Ich nehme für einen Moment Kontakt mit dem Universum auf und lächle weiter.
»Wie ich bereits angedeutet habe, haben wir die Gelegenheit, einer historischen S-E-N-S-A-T-I-O-N beizuwohnen. Ist Ihnen klar, dass sich Ihr Gehirn Fakten dauerhaft merkt, wenn es sie mindestens sieben Mal aufnimmt? Nicht? Habe ich schon erwähnt, dass Sie heute die Gelegenheit haben, Zeuge einer historischen Sensation zu werden?«
Ich wiederhole das Wort in Zeitlupe, um es in die Schrumpfhirne meiner Zuhörer zu brennen. Trotz oder gerade wegen der Tatsache, dass es nicht die hellsten Kerzen auf der Torte sind.
»S - E - N - S - A - .«
»Laaaangweilig.« Der nächste Zwischenruf.
Ich lächle und starre meine Assistentin an, die keine Anstalten macht, die Störenfriede zur Ordnung zu rufen. Saffiwusch schleicht sich von hinten in den Raum und stellt sich neben sie. Erfüllt von Freude über den verbesserten Zustand meines langjährigen Weggefährten und Leidensgenossen fahre ich fort.
»Wie bereits angedeutet, werde ich erklären, durch welches wundersame Ereignis der völkerrechtswidrige Stellvertreterkrieg der U-SA vorzeitig beendet und damit Zehn-, wenn nicht Hunderttausende von Menschenleben gerettet wurden.«
Da es sich seit Jahren bewährt hat, das Publikum aktiv in den Vortrag einzubeziehen, stelle ich eine Frage.
»Hat jemand eine Ahnung, wie es zu dem abrupten Ende der Kriegshandlungen gekommen ist?« Ich lausche gespannt, lächle achtsam und blicke in ausdruckslose Gesichter. Der Weißwein-Heini schläft. Nach wenigen Augenblicken trägt die Interaktion Früchte und erste Antworten werden in den Raum gerufen. Ich weiß, dass keiner die richtige Antwort kennt. Ich habe selbst keine Ahnung, was für einen hanebüchenen Blödsinn ich mir ausdenken werde. Jede Inspiration ist willkommen.
»Micky Maus.«
»Nein, Hackbeck war das.«
»Putler.«
»Die Bockbier vom Außen war’s.«
»Klar. Blödbaum! Hähähä.«
»Homer Simpson!«
»Markus mit dem Schwanz.«
»Der olivgrüne Panzer-Toni.«
An dieser Stelle muss ich zugeben, dass die Vorschläge deutlich unter dem erhofften Niveau liegen. Deshalb komme ich gleich zur Sache: »Sehr geehrte Damen und Herren. In aller Bescheidenheit: Sie sind Zeuge einer historischen Sensation. Noch nie habe ich diese Fakten vorgetragen. Sie gehören zu den ersten Menschen auf diesem Planeten, die die Wahrheit hören. Verantwortlich für das plötzliche Ende des von den U-SA völkerrechtswidrig entfesselten Krieges …«
Die künstliche Pause wirkt. Alle Augenpaare sind auf mich gerichtet. Alle sind gespannt auf die Lösung des Rätsels. Wie eine Sprungfeder schießt Blöbaum nach oben. Obwohl er direkt vor mir steht, endet sein breiter Scheitel unterhalb meiner Schulter. Er winkt mich heran, beugt sich verschwörerisch vor und flüstert mir ins Ohr: »Sie haben das noch niemals irgendjemandem erzählt?«
»Niemals.« Es ist die reine Wahrheit.
»Lassen wir es erst einmal dabei. Das bleibt unser Geheimnis«, sagt Blöbaum. Mit einer Geschmeidigkeit, die ich ihm nicht zugetraut hätte, dreht er sich um, steigt auf seinen Stuhl und breitet die Arme aus. Mit fester Stimme verkündet er: »Leutinnen. An dieser Stelle beenden wir den dramatischen Vortrag. Ich werde dringend anderweitig benötigt. Für weitere Informationen empfehle ich die Pressekonferenz morgen früh um 9:45 Uhr. Für die Langschläfer unter euch gibt es das Interview mit Canzotti in den Tagesthemen. Herzlichen Dank für euer Kommen.«
Drei Sekunden Stille.
»Ich hab's geahnt, der Typ ist bekloppt! Warum mutet uns der Blöbi diesen Schwachsinn zu? Und urplötzlich fällt der relevante Teil weg!«
Die Meute ist in Aufruhr, der Lärm im Raum hat sogar den Weinliebhaber vor der leeren Flasche geweckt. Der Maskenmann steht auf, streckt den Arm in die Höhe und wiederholt ein Mantra: »Es gibt eine Studie darüber. Ich war in Harvard!«
Ich frohlocke. Das rasche Ende des unsäglichen Auftritts kommt mir gelegen. Der Kanzler gibt mir diskret ein Zeichen, ihm zu folgen. Wir verlassen den Raum durch eine kaum sichtbare Seitentür, die in die Wandvertäfelung eingelassen ist. Hinter der Geheimtür warten zwei Leibwächter.
»Halt, ich will mit!«, schreit es. Saffiwusch zwängt sich durch den Türspalt, wird blitzschnell von einem der Leibwächter gepackt und bäuchlings auf den Boden gelegt. Der massige Gorilla dreht meinem Freund die Arme auf den Rücken und kniet sich auf sein Kreuz. Zum Glück hat Blöbaum sofort ein Einsehen.
»Lassen Sie es gut sein, Tubenfalz!«
Ich nehme an, regierungsnahe Bodyguards haben Decknamen. Dieser Name kann unmöglich echt sein. Vom lebenden Schraubstock auf die Beine gestellt, versucht Saffiwusch angestrengt, Luft in seine Lungen zu pressen. Man sieht ihm an, dass der Nahkampf mit dem Riesen eine beängstigende Erfahrung war.
»Hier entlang«, sagt der Kanzler.
Der Weg schlängelt sich durch schummrige Gänge. Inzwischen habe ich keine Vorstellung mehr, in welchem Teil des Gebäudes wir uns befinden. Wahrscheinlich ist es irgendein Geheimgang. Mir fällt auf, wie flink Blöbaum trotz seiner geringen Körpergröße ist. Wir können kaum Schritt halten. Unvermittelt bleibt unser Anführer stehen, um ein Haar wären wir auf ihn aufgelaufen. Er zückt eine Plastikkarte und hält sie an einen schwarzen Kasten. Die Tür gleitet lautlos zur Seite.
»Einen Moment«, sagt Blöbaum und nickt einem seiner Bewacher zu. Der wendet sich Saffiwusch zu, der sich erschrocken an die Wand des schmalen Ganges drückt. Bevor Protest aufkommen kann, beruhigt der Kanzler die Szene.
»Reine Formsache, kein Grund zur Beunruhigung.« Diesmal widmet sich der andere Gorilla meinem Begleiter und tastet ihn gründlich ab.
»Warte, bis du dran bist! Es macht keinen Spaß, von einer lebenden Schraubzwinge betatscht zu werden, das sag ich dir!«
»Wir können den Chip nicht auslesen«, sagt der zweite Riese.
Saffiwusch grinst über das ganze Gesicht.
»Ich kann ihn zum Injektor bringen, Boss.«
»Da wollen wir heute ausnahmsweise alle Augen zudrücken. Bitte, nach Ihnen.« Blöbaum führt uns mit ausladender Geste durch die Tür. Saffiwusch bläst hörbar Luft aus seinen Backen. Sofort wird er wieder angriffslustig und fängt an zu maulen: »Und was ist mit ihm? Bin ich etwa weniger vertrauenswürdig? Das ist der Ausländer!« Er zeigt mit dem Finger auf mich. Der Kanzler schließt die Tür, die Affen bleiben draußen. Wir sind in den Privaträumen des Regierungschefs gelandet.
»Kein Steuerzahler würde sich hier über unbotmäßige Verschwendung beschweren«, sagt Blöbaum.
Ich bestätige seine Feststellung: Statt der erwarteten Luxuswohnung scheint es sich um einen verwinkelten 1,5-Zimmer-Verschlag zu handeln.
»Krass das Loch, völlig angemessen«, sagt Saffiwusch.
»Erstaunlich, wie bescheiden Sie hier wohnen, Herr Reichskanzler«, bemerke ich.
»Nicht wahr? Deshalb habe ich den Anbau in Auftrag gegeben.«
»Den für 750 Milliarden?«, fragt Saffiwusch.
»Das ist die veröffentlichte Zahl. Inoffiziell eher das Doppelte. Schließlich konnte niemand ahnen, dass das Deutsche Reich wiederkommt und Bonn wieder Hauptstadt wird. Den nuklearen Winter da oben werden wir noch sehr lange ertragen müssen. Sie sehen, das ist wahrlich keine Residenz für ein Staatsoberhaupt. Auch nach den Energiekriegen stehen wir mit unserer Wirtschaftsleistung immer noch an 46. Stelle in der Welt.«
»Da haben uns die Imperialisten aber ganz schön in den Arsch gefickt, was?«, lacht Saffiwusch.
»Er schluckt starke Medikamente«, sage ich.
»Apropos, ich verschwinde mal kurz. Bad und Toilette sind leider über den Flur«, sagt Blöbaum ohne erkennbare Regung.
»Man nötigt den Staatschef, zum Kacken über den Flur zu düsen?«
Bodenlos, die Peinlichkeit eines meiner engsten Freunde.
»Bedienen Sie sich, da hinten ist die Bar. Den Inhalt habe ich natürlich privat besorgt.«
»Natürlich«, sage ich dümmlich.
Der Chef ist im Nu verschwunden.
»Komm, wir checken rasch die Bude aus. Da ist bestimmt noch was, was wir bei SpaceBay verticken können.« Saffiwusch verliert keine Zeit und begibt sich zu einem antiken Schreibtisch. Er rüttelt an den Schubladen.
»Mist. Verschlossen. Du hast bestimmt ein Taschenmesser im Sack. Das sagt ihr doch, ihr Röstis. Sack? Damit kriege ich das Ding auf.«
Ehrlich gesagt wäre ich lieber ohne meinen Begleiter hergekommen.
»Scheiße, abgebrochen!«
»Saffi, lass den Scheiß! Du bringst uns noch in Teufels Küche!«
»Ja, ja«, sagt er, aber ich sehe, dass er sich etwas in die Hosentasche gesteckt hat. Kurz darauf kommt Blöbaum zurück. Saffiwusch war in der Zwischenzeit nicht davon abzubringen, sich an der Bar zu bedienen. Ich hoffe inständig, dass sich der Alkohol mit den Medikamenten verträgt.
»Das habe ich vorhin ganz vergessen zu erwähnen. Es gibt eine automatische Videoüberwachung, wenn ich nicht da bin. Hightech aus Deutschland.«
Saffiwuschs Gesicht ist krebsrot.
»Das ist mir aus Versehen in die Tasche gefallen«, sagt er und legt eine Goldmünze auf den Schreibtisch. Blöbaum lacht laut auf.
»Hereingefallen. Glauben Sie ernsthaft, ich lasse Kameras in meine intimsten Bereiche? Damit die Bilder am Ende bei den Amis, Chinesen, Israelis oder wem auch immer landen?«
Ich gestehe mir ein, dass ich den Mann völlig unterschätzt habe. Aber ohne gewisse Charaktereigenschaften würde er allen Unkenrufen zum Trotz nicht schon die dritte Amtszeit regieren. Das liegt auch an der schwachen Opposition. Das konservative Duo aus Kanzlerkandidat Sven Grünspahn und dem greisen Parteichef Friedlieb Terz war bei der letzten Wahl krachend gescheitert.
»Noch ein Tipp, Herr Saffiwusch.«
»Was denn?«
»Behalten Sie den Schokoladentaler. Warten Sie, ich gebe Ihnen einen Vorrat mit, für die Kinder. Die haben eine spezielle Spezialverpackung. Man merkt kaum, dass es Schokolade ist, wenn man sie anfasst.«
Saffiwusch schweigt, als der Kanzler ihm eine kleine goldene Schachtel mit der Aufschrift ›Blöbaum Schokotraum‹ überreicht.
»Die Wohnung ist winzig, aber sie hat eine schöne Terrasse. Schnappen Sie sich ein Getränk.«
Mit einem Bier in der Hand öffnet der Hausherr die Schiebetür. Wir treten auf eine überraschend große Terrasse. Wir setzen uns auf elegante Holzklappstühle, die um einen kleinen Gartentisch mit einem Sonnenschirm in der Mitte gruppiert sind. Der Stoff des Schirms ist pechschwarz. Das ist das Herz der Finsternis, geht es mir durch den Kopf. Mit dezenter Gesichtsgymnastik versuche ich, Saffiwusch vom übermäßigen Trinken abzuhalten. Blöbaum scheint anderer Meinung zu sein und holt ein Tablett mit allerlei Flaschen, die er griffbereit auf den Tisch stellt. Ich frage mich, was er mit der ganzen Aktion erreichen will. Plötzlich findet mein Freund seine Sprache wieder.
»Mit der Meinungsfreiheit ist es nicht weit her in diesem hohen Land. Aus heiterem Himmel wurde mir mein SteamVibe-Account gesperrt. Nur, weil ich die Wahrheit über den Virenscheiß gesagt habe. Ist doch klar, was ihr Politiker für einen Mist gebaut habt. Die Pharma scheffelt dank ihrer Lobby jedes Jahr ein paar Milliarden extra. Ein popliger freier Journalist wie ich existiert nicht von Wasser und Luft. Trotzdem wird mir, der über Fakten berichtet, von heute auf morgen die wirtschaftliche Existenz entzogen. Stellen Sie sich vor, Sie ernähren als Freiberufler eine Familie und sind nicht mehr kreditwürdig. Wenn das Auto kaputt geht oder die Kinder ins Schullandheim fahren.«
»Sie haben mein aufrichtiges Mitgefühl. Und es gibt einige in der Regierung, die eifrig Ihre Beiträge geschaut haben, mich eingeschlossen. Aber Gefühle und Realpolitik sind zwei völlig verschiedene Paar Schuhe. Warten Sie kurz«, sagt Blöbaum. Der Regierungschef eilt zu seinem Schreibtisch und gesellt sich anschließend wieder zu uns. Er überreicht Saffiwusch eine Visitenkarte aus glänzendem Karton mit goldenem Aufdruck. »Entschuldigen Sie, ich sage dauernd ›Herr Saffiwusch‹. Ich habe mich an den Künstlernamen gewöhnt, mit dem bürgerlichen Namen tue ich mich noch schwer.«
»Karl E. Koffer ist Geschichte, der ist mit der digitalen Verbannung gestorben. Der Nachname ist Jeblonski. Mutter Perserin, Vater Pole. Ich bin in Deutschland geboren.«
Der Chef fummelt sein Handy aus der Jackentasche und hält es sich ans Ohr. »Marquardt. Ein Herr Jeblonksi meldet sich in Kürze bei euch, Code Wasserflugzeug. Notfalls abschreiben. Alles klar, ciao.«
Saffiwusch starrt auf die Karte in seiner Hand. Ich entziffere das Ende des Logos: »burg Digibank«. Der Teil vor »burg« ist verdeckt.
»Sie reaktivieren auch meine Station?« Saffiwuschs Augen leuchten bei der Frage.
»Wo denken Sie hin? Die wird von den Imperialisten kontrolliert. Wir sind froh, wenn sie uns nicht zu viel aufzwingen. Zaster besorgen – kein Problem. Millionen Impfdosen verspritzen oder ungenutzt wegwerfen – Pipifax. Eine Station bei SteamVibe freischalten lassen – vergessen Sie's. Eher lege ich Ihnen morgen als Pumuckl verkleidet eine originale Atombombe vor die Haustür.«
Trotz des späten Abends ist es hell, wir schweigen einen Moment. Unter dem Sonnenschirm ist das Licht des klaren Nachthimmels deutlich zu erkennen. Blöbaum springt auf: »Haben wir Vollmond oder leuchtet mein Schirm?« Er schließt ihn und setzt sich.
»Vollmond«, sagt Saffi und imitiert das Heulen eines Wolfes. Der Kanzler wartet, bis der kindliche Ausbruch vorbei ist, und schaut mich ernst an. »Sie haben in Ihrem Vortrag erwähnt, dass Sie diese, wie Sie sagen, ›Sensation‹ noch nie öffentlich vorgetragen haben?«
»Ja, Herr Reichskanzler.«
»Laut Umfragen liegen die Olivgrünen ein paar Prozentpunkte vor uns. Ich brüte mit dem Beraterstab über einer Strategie, wie wir uns wegen des Konflikts mit Gnawatsch-Mulleputanien in ein besseres Licht rücken können. Es wäre vorteilhaft, meinen Beitrag zur Beruhigung der Lage hervorzuheben. Man stelle sich vor, Panzer-Toni würde zum Kanzler gewählt. Nicht auszudenken. Definitiv verheerender als die peinliche Sache mit dem Gesundheitsminister. Sie haben vielleicht mitbekommen, wie es dem armen Kerl geht. Der ist zum regierungseigenen Pflegefall mutiert. Eine ›Sensation‹ würde den Umfragewerten sehr gut tun. Ich hatte vor Ihnen alle Vertreter unserer Verlautbarungsorgane hier. Spiegel, Süddeutsche, Sportbild, FAZ, Zeit, Bunte, Gewehr und Hund. Die wissen gar nicht mehr, wie man recherchiert, weil sie das Regierungsnarrativ unhinterfragt übernehmen. Nur Ihr Landsmann Knüppel hat wie am Fließband originelle Ideen geliefert. Aber die waren leider viel zu radikal.«
Mir bleibt nur die Strategie mit der improvisierten Geschichte. Die Peinlichkeit, nichts Unveröffentlichtes vorweisen zu können, erspare ich mir an dieser Stelle. Zumal selbst der zweifelhafte Knüppel geliefert hat. Mir ist klar, dass ich nach meinem abstrusen Vortrag nicht mehr zu Blöbaums Dunstkreis gehören werde. Ganz im Gegensatz zu Knüppel.
»Natürlich unterstütze ich Sie, Herr Reichskanzler.«
»Ausgezeichnet! Ich lasse die Protokollführerin kommen!«
»Sie schreiben das auf?« Ich bin verunsichert.
»Wir brauchen das schriftlich.«
Es dauert eine Weile, bis die Dame mit dem Laptop eingetroffen ist und sich positioniert hat. Zwei weitere Biere geben mir Auftrieb. Ich werde für den letzten Auftritt in diesem hohen Haus alles aus mir herausholen und stelle mich vor mein kleines, erwartungsvolles Publikum.
Blöbaum reibt hörbar seine Handflächen aneinander. »Wer oder was ist nun verantwortlich für das Ende dieses unsäglichen Konflikts?«
Wie der Erlöser breite ich die Arme aus und sage das Zauberwort: »ICH!«
Stumme Gesichter und offene Münder starren mich an.
»Die Enthüllung, dass ich die Beendigung des völkerrechtswidrigen Krieges der U-SA mitten in Europa herbeigeführt habe, kommt sicher aus heiterem Himmel. Der Mainstream wird diese historisch belegte Tatsache niemals in die offizielle Berichterstattung aufnehmen, weil ich sie ausspreche – der angebliche Verschwörungstheoretiker. Sie sind der Glückliche, der als Erster von dieser – erwähnte ich es schon – S E N S A T I O N – erfährt. Erinnern Sie sich noch an die Reportage über den Oppositionspolitiker Growollnich, die Anfang des Jahres in den Cinescopes lief?« Stille. Ich nehme einen Schluck Bier. Das Stichwort ›Cinescope‹ hat niemand erwartet.
»Dieser Dokumentarfilm lief nur in den Häusern mit Arthouse-Cinescope. In unserem Fall an einem Tag in der Woche. Seien Sie nicht traurig, wenn Sie stattdessen einen vom Imperium finanzierten Actionfilm mit militärischen Kampfjets gesehen haben. Mitunter ist es schwer, dem Einfluss des Mainstreams zu entkommen.«
Saffi verzieht das Gesicht.
»In jener Woche wollte ich mir mit einem Freund den erwähnten Dokumentarfilm ansehen. Auf der Website suchte ich mir die Vorstellung aus und stellte fest, dass bis auf drei Plätze alle frei waren. Also fragte ich meinen Kumpel, wo er denn gerne sitzen möchte. Er antwortete mit einem historisch denkwürdigen Satz.«
»Ich weiß: Warum schauen wir uns nicht einen gescheiten Film an? Einen mit Zombies und Kampfjets, die das Rechenzentrum von SteamVibe bombardieren!«
»Nein, Saffi. Der Satz lautete: ›Kauf die restlichen Karten auf und wir entscheiden vor Ort, wo wir sitzen.‹ Manch einer mag die Erwiderung des geschätzten Freundes für einen dummen Scherz halten. Ich gebe zu, dass dies die ursprüngliche Absicht hinter der augenzwinkernden Antwort auf meine Frage nach dem bevorzugten Sitzplatz war. Doch ich habe Achtsamkeit geübt, innere Einkehr gesucht und gefunden.«
»Und dann?«, ruft Saffiwusch.
»Habe ich alle freien Plätze aufgekauft. 319 Stück.«
Saffi ist nicht zu bremsen: »S E N S A T I O N! Granate, geil, geil, geil, geil!«
»Absolut inkommensurabel«, sagt Blöbaum.
Die Protokollantin tippt ungerührt weiter in ihren Computer. Ich hebe beide Hände wie ein Priester, der seine Gemeinde segnet. Es gibt nichts mehr zu verlieren.
»Die Sache ist die: Ich habe die Karten vier Tage vor der Vorstellung online gekauft. Der Betreiber des Cinescopes war derart beglückt, dass er prompt eine rote Banderole mit der Aufschrift ›ausverkauft!‹ über alle Schaukästen mit der Filmwerbung geklebt hat. Das betreffende Kino liegt mitten in der Fußgängerzone.«
»Ich verstehe nicht«, sagt Blöbaum.
»Allein das Aufkleben hat dazu geführt, dass sich viele Passanten nach dem Film erkundigt haben. Sogar ein Reporter war da, der einen euphorischen Bericht auf der lokalen Käsewebsite veröffentlichte. Eines führte zum anderen: Das Cinescope zeigte den Dokumentarfilm in allen Sälen, die Vorstellungen waren ausverkauft, der Hype schwappte auf andere Städte über. Monatelang strömten Millionen Besucher in die Vorstellungen, um den Bericht über den eingesperrten Growollnich zu sehen. Menschen aus Gnawatsch-Mulleputanien trugen die Nachricht von dem enormen Interesse am ehemaligen Präsidentschaftskandidaten in ihre Heimat. Der innenpolitische Druck auf den Herrscher wuchs, die miserable Behandlung des Inhaftierten zu beenden. In der Folge beging der mulleputanische Autokrat den fatalen Fehler, den einzigen echten Gegenkandidaten mit demokratischen Wurzeln aus dem Gefängnis zu entlassen.«
»Mir dämmert es«, sagt Blöbaum.
Langsam leere ich die Flasche, bevor ich fortfahre. Es hilft mir, das Lachen zu unterdrücken.
»Genau. Die Sache hat sich verselbständigt. Growollnich ist wieder in der Öffentlichkeit aufgetreten und hat die Zahl seiner Anhänger erheblich vergrößert. Der mulleputanische Staatsdiktator konnte den Unmut der Bevölkerung über das sinnlose Blutvergießen nicht länger ignorieren. Sonst hätte er riskiert, von seinen eigenen Landsleuten gewaltsam abgesetzt zu werden. Folglich hat er den Krieg abgebrochen und lediglich das Gebiet mit dem Zugang zum Meer behalten. Im Gegenzug bleibt Murkledonien neutral und die Nachbarländer Gnawatsch-Mulleputaniens stellen keine Raketen des Imperiums bei sich auf. Alles in allem ist es so gekommen, weil ich mich in Achtsamkeit geübt und mir mit meinem Freund einen informativen Abend im Cinescope gegönnt habe.«
Blöbaum schweigt. Sein Gesicht sieht aus, als müsse er einen Lachanfall unterdrücken. Ich bin vom Bier berauscht. Es erfüllt mich mit kindlicher Freude, dass ich diesen Unsinn durchgezogen habe. Das werde ich noch meinen Enkeln erzählen. Der Kanzler reagiert wie erwartet – er hat genug von der Märchenstunde.
»Wie die Zeit verflogen ist. Da Sie sicher keinen Flieger mehr erwischen, schlage ich vor, dass Sie unseren Gästeservice in Anspruch nehmen. Wenn Sie vorher bitte kurz die Papiere unterschreiben würden.«
Wie auf Kommando erscheint ein Mitarbeiter mit einem Stapel Papier in der Hand. Offenbar hat die Protokollantin über das interne Netzwerk einen Druckauftrag ausgelöst. Ich überfliege mein Exemplar. Von absoluter Geheimhaltung ist die Rede und von drakonischen Strafen bei Verstößen. Verwundert unterschreiben Saffiwusch und ich die Papiere. Wir haben keine andere Wahl. Niemand hat das Verlangen nach unerwarteter Heimsuchung durch Tubenfalz und Konsorten. Mir ist immer noch nicht klar, was an diesem Blödsinn schützenswert sein soll.
Blöbaum wendet sich an die Sekretärin: »Frau Schluppkotten, bestellen Sie bitte den Text und die Fragen für Canzotti. Er lernt seinen Part gerne vorher auswendig.«
Wir verabschieden uns. Ich verbeuge mich tief vor dem Kanzler und lade ihn pro forma zu meinem Workshop über Achtsamkeit ein. Mir ist klar, dass dies unsere letzte Begegnung ist. Saffi klopft dem Regierungschef zum Abschied auf die Schulter. »Blöbi, nichts für ungut!« Dabei wedelt er noch kurz mit der Visitenkarte. Den Rest des Abends verbringen wir im Gästehaus der Regierung und lassen uns kulinarisch verwöhnen. Der gute Whisky fließt in Strömen, viel zu spät begeben wir uns in die Gemächer. Ein Karussell setzt ein, nachdem ich mich in das bequeme Bett gelegt habe. In Zukunft werde ich beim Umgang mit alkoholischen Getränken Achtsamkeit üben. Nach dem Aufwachen hämmert es unerbittlich in meinem Kopf. Hoffentlich habe ich genügend Schmerztabletten eingepackt. An Meditation ist nicht zu denken, der Vorschlaghammer verdrängt jeden Versuch der inneren Einkehr. Eine eiskalte Tropendusche lindert die Schmerzen ein wenig. Ich schlüpfe notgedrungen in die Kleidung vom Vortag und schlurfe aus dem Zimmer in Richtung des Essbereichs. Erstaunt sehe ich Saffiwusch putzmunter an einem der Tische sitzen. Er hat sich reichlich mit Frühstück eingedeckt. Es ist mir ein Rätsel, warum er so fit ist. Ob es am regelmäßigen Training liegt? An einer Säule hängt ein gigantischer Fernseher. Wahrscheinlich läuft ein politischer Sender. Aus der Ferne kann ich es nicht genau erkennen, meine Sinne sind zu benebelt. Saffi, der voller Entdeckerfreude das Programm verfolgt, bemerkt mich.
»Hey Alter. Ausgeschlafen? Setz dich hier hin und greif zu. Alles gratis, das muss man ausnutzen!«
Langsam schleiche ich zum Platz. Mir ist hundsmiserabel, die aufmerksame Bedienung bringt auf Wunsch einen extra starken Kaffee. Der Gedanke an Essen stößt mich ab. Ich will nur schnell nach Hause. Später werde ich Nadeschda anrufen. Vielleicht verlängern wir um einen Tag und ich schlafe meinen Kater in einem Hotel aus. Saffiwusch plappert wie immer. Ich nippe an meiner Kaffeetasse und verbrenne mir die Zunge. Urplötzlich zeigt Saffi aufgeregt auf den Fernseher.
»Schau! Der neue Freund!«
Ich kneife die Augen zusammen und starre auf den Bildschirm. »Was ist denn so aufregend?«
»Na, unser Kumpel von gestern. Live von der Pressekonferenz.«
»Ach so.« Ich habe kaum eine klare Erinnerung an den gestrigen Abend. Die Erlebnisse verschwimmen hinter einem nebligen Schleier. Wir verfolgen, wie der Regierungschef ans Mikrofon tritt. Im Hintergrund erkenne ich den Vizekanzler. Den Politiker, der Namensgeber der neuesten Generation deutscher Kampfpanzer ist. Bei einem möglichen Wiederaufflammen des Krieges ist klar, dass die Murkledonier die absolut tödlichen »Tonis« fordern werden.
»Sehr geehrte Damen und Herren. Sie haben das Privileg, Zeuge einer Sensation zu sein. In der heutigen Pressekonferenz stelle ich Ihnen meine ursächliche Beteiligung an der Beendigung des letzten europäischen Krieges vor. Heute schreiben wir Geschichte.«
Adrenalin jagt durch meinen Körper. Ich bin voll da. »Saffi, was sagt er da – ›Sensation‹?«
»Verdammte Schalotte. Du erinnerst dich nicht, oder?«
Blöbaum fährt fort. »Alles fing damit an, dass ich mit einem guten Freund einen Film über den demokratisch orientierten Oppositionsführer Growollnich gesehen habe.«
Das ist ein Traum. Oder der Schnaps. Oder beides. Es gibt einen Weg, das zu überprüfen. Hastig rufe ich meinen Terrapedia-Eintrag auf. Dort steht zum ersten Mal nicht »Verschwörungstheoretiker«. Sondern »international anerkannter Wissenschaftler«.