Canale Grande

Friedlieb und Wolf-Rüdiger in der Geschichte "Canale Grande" von Laurentius Fisch.

Die Geschichte Canale Grande von Laurentius Fisch – basierend auf einer wahren Begebenheit!

Ein abendlicher Waldspaziergang mit Wolf-Rüdiger im Nachbardorf. Was tut man nicht alles, um der Schnüffelnase ein paar aufregende Gerüche zu bieten. Undine scheint gut drauf zu sein, sonst würde sie mich nicht grundlos loben.
„Die neue Brille steht dir gut.“
Als ich nach dem Optikerbesuch mit dem Nasenfahrrad im „Helmut-Kohl-Gedächtnis-Stil“ auftauchte, klangen Undines Kommentare weniger euphorisch.
Ich bin mir nicht sicher, ob sie ihre Meinung wirklich geändert hat oder ob der Familienrat sie davon überzeugt hat, dass der urtümliche Brillenstil extrem angesagt ist. Auf jeden Fall habe ich auf die violette Tönung der Gläser verzichtet, mit der ich geliebäugelt hatte. Trotzdem war das Ding sündhaft teuer. Wir biegen auf den Parkplatz unterhalb des Waldweges ein. Gerade will ich meine Sehhilfe mit dem gewohnten eleganten Schwung in der Mittelkonsole des Familienautos verstauen, als Undine Einspruch erhebt.
„Die kannst du nicht einfach im Auto liegen lassen. Erstens scheint die Sonne drauf, und wenn eingebrochen wird, ist die Brille als erstes weg. Dann hattest du die längste Zeit deine Freude daran.“
„Wie du meinst.“
Des lieben Friedens willen stecke ich die Brille in die Brusttasche meines Oberhemdes. Noch habe ich kein passendes Etui für dieses Meisterwerk des Optikerhandwerks gefunden. Als wir uns auf den Weg machen, nickt Undine zufrieden.
Wolf-Rüdiger taucht während des Spaziergangs seine Schnauze in jedes größere Grasbüschel. Gerade hat er seinen Kopf in eine Mulde am Wegesrand gesteckt.
„Hey Wollo, hast du ein Stöckchen gefunden?“
Da das Tier nicht gewillt scheint, sich in absehbarer Zeit von seinem Platz zu entfernen, beschließe ich als Herr des Höllenhundes, der Sache auf den Grund zu gehen. „Nun, mein Freund, möchtest du deiner Sammlung ein Stöckchen hinzufügen – sollen wir es mit nach Hause nehmen?“
Als ich merke, dass es sich bei dem vermeintlichen Stück Holz um einen Haufen Scheiße handelt, ziehe ich mein großzügiges Angebot zurück. Statt seinen Riechkolben kreisen zu lassen, leckt Wolf-Rüdiger genüsslich mit der Zunge an den vom Regen aufgeweichten Hinterlassenschaften. Die Kauleiste unseres liebsten Hausgenossen schimmert hellbraun, als er mir schuldbewusst in die Augen blickt. Obwohl es mir im Nachhinein meist peinlich ist, brülle ich den Hund an: „Du alter Drecksack!“ Gleichzeitig fuchtele ich mit den Armen und scheuche das Tier hastig vom Ort des Verbrechens weg. Ein älteres Ehepaar, das in einiger Entfernung vor uns den Weg entlang geht, dreht sich empört um. Der Mann schüttelt den Kopf und zeigt mir den Vogel. Ansonsten verläuft der Spaziergang ohne besondere Zwischenfälle. Einmal jagt der Hund noch ein Eichhörnchen auf einen Baum und lotet eine Weile unbeholfen seine Möglichkeiten aus, ebenfalls nach oben zu gelangen.
„Typischer Fall von Größenwahn“, kommentiere ich diese sinnlose Aktion und leine Wolf-Rüdiger wegen seines Ungehorsams an, um meine Überlegenheit gegenüber Undine zu demonstrieren. Kurz vor Ende des Rundweges setzt die Dämmerung ein. Ein verwildertes Feld verhindert den direkten Weg zum Parkplatz.
„Was meinst du, Undine – sollen wir abkürzen? Dann kann sich Wolf-Rüdiger auf der Wiese austoben und es gibt bestimmt keine leckeren Rehe und keine bösen Eichhörnchen. Außerdem sind wir schneller am Auto und haben den Brillendieben ein Schnippchen geschlagen“. Ich muss mich beherrschen, um nicht laut über meinen eigenen Witz zu lachen.
„Ich weiß nicht so recht. Die Wiese sieht wüst aus und im Dämmerlicht kann man keine Unebenheiten erkennen.“
„Ständig diese unnötigen Bedenken. Immerhin haben wir die Spürnase dabei, die uns vor allen Unwägbarkeiten bewahrt, die ein Biotop im Großstadtdschungel für uns bereithält.“
Draufgängerisch löse ich die Leine von Wolf-Rüdiger, der auf die Wiese zustürmt. Ich folge ihm forschen Schrittes, die überrumpelte Undine im Schlepptau. Unser Grasdackel bleibt durch die Vegetation unsichtbar, seine Anwesenheit wird nur durch wippende Halme bestätigt. Plötzlich ertönt ein weithin hörbares „PLATSCH! – wie wenn ein schwerer Stein in einen Teich fällt.
„Hast du das gehört?“
Gleich darauf sprinten zwei Erwachsene, einer mit einer Hundeleine in der Hand, über die Wiese und kreischen entgeistert: „WOOOOLF-RÜÜÜÜDIGER, WOOOOLF-RÜÜÜÜDIGER!“.
„Scheiße, der Gewerbekanal. Deshalb gibt es hier keinen direkten Weg zum Parkplatz!“
Fassungslos blicken wir in Fließrichtung des Kanals und sehen einen verdutzten Wolf-Rüdiger, der gegen die Strömung ankämpft. Vergeblich versucht er, sich mit seinen kurzen Beinchen aus der misslichen Lage zu befreien. Eine Rettung aus eigener Kraft ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn die hohen und glatten Wände des Gewässers stellen für unseren Helden ein unüberwindbares Hindernis dar. Todesmutig eile ich am Ufer des teuflischen Flusses entlang und folge unserem Hund mit den Worten: „Papa kommt und rettet dich!“. Ohne Rücksicht auf eigene Befindlichkeiten stürze ich mich mit einem Satz in die Fluten. Undine steht mit ungläubigem Blick am Rand des barbarischen Gewässers und schaut uns nach.
Nach 10 Minuten Bangen, Warten und Rufen ist der Spuk vorbei und ich erlöse sie, als ich tropfnass mit dem Familienglück im Arm heran trotte und stottere: „Ich h- habe u- unsere Spürnase gerettet. Gut da-da dass e es nicht s s s o wirklich kalt ist, immerhin h hat es noch ru- rund 4 Grad. St- stell D D Dir v vor, es w-w- wäre i tie- tiefster Wi Wi Winter.“
Trotz des tragischen Ereignisses fällt es Undine schwer, die Fassung zu bewahren und nicht laut loszulachen. Wahrscheinlich kann sie sich schon vorstellen, wie sie ihre beiden Superhelden wegen der zu erwartenden Erkältung pflegt.
„Ich hatte gleich Bedenken wegen der Wiese, aber ihr Zwergnasen habt nicht auf mich gehört.“
Der Rest des Spaziergangs führt sicherheitshalber über die reguläre, deutlich längere Route. Obwohl ich Wolf-Rüdigers Tollpatschigkeit innerlich verfluche und heftig zittere, schleppe ich ihn mannhaft auf dem Arm zum Auto. Gerade als ich mich auf die beheizten Sitze freue, bemerkt Undine beiläufig, „dass sie vor dem Sprung in den Kanal ihre Jacke ausgezogen hätte“. Aber was sind schon ein durchnässtes Portemonnaie mit allen Papieren, eine eingeweichte Autoschlüsselbatterie und ein mausetotes Smartphone, wenn man seinen Augenstern vor dem schrecklichen Tod durch Ertrinken gerettet hat? Zum Glück hat Undine ihren Autoschlüssel dabei. Da ich keine Ersatzkleidung dabei habe, beschließe ich, die Heimreise nackt und mit voll aufgedrehter Heizung anzutreten. Was zu einer weiteren Verspätung von 45 Minuten führt, da wir auf dem von mir gewählten „wesentlich kürzeren“ Promilleweg durch den Wald von der Polizei kontrolliert werden. Im behaglich geheizten Haus angekommen, begutachtet Undine die Schäden an den gewässerten Gegenständen. Wolf-Rüdiger und sein Mensch wärmen sich derweil vor dem Kamin auf. Gemeinsam teilen wir uns eine Schüssel Kakao, um die größte Not zu lindern. Dann fällt mir ein, was Wolf-Rüdiger mit der Kacke am Wegesrand gemacht hat.
Zwei Stunden später fühle ich mich schon wieder in der Lage, Sohnemann mit dem Auto vom Basketballtraining abzuholen. Wolf-Rüdiger zieht es vor, sich eingemummelt auf der Couch vor der Flimmerkiste mit einer Quizsendung weiterzubilden. Genau in dem Moment, in dem ich mich im unermüdlichen Dienst für die Familie ins Auto setze, schießt es mir wie eine Armee von 1000 Nadeln ins Hirn: DIE BRILLE!
Hastig stürze ich in den Keller und durchsuche die aufgetürmten Wäscheberge nach dem Hemd, in dem ich das erlesene Stück vor Wolf-Rüdigers „Missgeschick“ deponiert hatte.
Schnell finde ich das Kleidungsstück, aber nirgends die verdammte Brille. Ich renne zwei Stockwerke nach oben, um meine Liebste zu suchen. Als ich sie dort nicht finde, setze ich meine Suche nach dem allwissenden Orakel im Erdgeschoss fort. Schließlich finde ich Undine im Keller, im Raum neben der Waschmaschine.
„Sag mal, hast du meine neue Brille herausgenommen, bevor du das Hemd in die Wäsche geworfen hast?“
„Du weißt doch, dass ich systematisch alle Taschen kontrolliere, und ich bin froh, dass Wolf-Rüdiger seinen praktischen Pelz hat. Sonst müsste ich bestimmt auch seine Kleidung filzen.“
„Verdammter Mist! Ich fahre schnell zum Basketball und bin dann kurz weg.“
Bevor Undine nachfragen kann, bin ich verschwunden.


„Notrufzentrale.“
„Wir beobachten einen seltsamen Mann auf dem Feld vor unserem Fenster.“
„Können Sie den Mann beschreiben?“
„Er stolpert mit einer Lampe auf dem Kopf und Flossen an den Füßen hin und her – manchmal verschwindet er kurz aus dem Blickfeld. Und wenn er wieder auftaucht, schimpft er laut. Über einen Rudibär.“

20 Minuten später trifft die Streife ein. Die Polizisten beobachten ein Wesen, das in Badehose, Taucherflossen und mit flackernder Stirnlampe bei eisigen Temperaturen umher tanzt. Das Wesen schreit: „Ich habe sie gefunden, ich habe sie gefunden!“.
In sicherer Entfernung haben sich zahlreiche Schaulustige versammelt. Auch die Lokalpresse ist da.
Ein Polizist murmelt: „Du Karle, das ist der Exhibitionist von vorhin aus der Verkehrskontrolle. Na warte, dem zeigen wir’s. Der wird eine Nacht in der Zelle über seine kranken Neigungen nachdenken!“


Undine ist früh ins Bett gegangen. Die Aufregung vom Vorabend hat sie wie einen Stein schlafen lassen. Langsam wandert ihre Hand auf die andere Seite des Bettes. Ihr Bettnachbar fühlt sich im Halbschlaf erstaunlich weich und flauschig an. Als ihr eine schlabbrige Zunge über das Gesicht fährt, springt sie wie vom Donner gerührt aus dem Bett. Entgeistert schaut sie auf den haarigen Mitbewohner, der sich anstelle seines Herrchens im Ehebett lümmelt. Verschlafen und verwirrt schlurft Undine in die Küche, wo die Kinder bereits am Frühstückstisch sitzen. Ohne viele Worte schieben sie ihr das Tablet mit der Online-Ausgabe der lokalen Käsezeitung über den Tisch. Undine wirft einen trüben Blick auf den Bildschirm mit dem Titelbild. Darauf ist groß ihre bessere Hälfte in Badehose zu sehen. Ansonsten trägt ihr Mann Friedlieb nur seine neue Brille und hat ein Grinsen im Gesicht. Die Schlagzeile lautet: „Polizei schnappt irren Exhibitionisten“.
Undine beschließt, dass sie träumt. Benommen schleicht sie zurück ins Schlafzimmer und legt sich ins Bett. Wolf-Rüdiger grunzt zufrieden, entspannt kurz seine Darmmuskulatur und schließt die Augen.

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