Bonnietag 2025
Wanderung auf dem Rappenfelsensteig
Am 19. September 2023 musste ich mich schweren Herzens von meinem geliebten Hund Bonnie verabschieden. Um diesen Jahrestag im Gedenken an meine treue Begleiterin zu verbringen, erinnere ich mich zu jedem Jahrestag in der Natur an unsere gemeinsamen Spaziergänge und Wanderungen. Für mich ist es eine Gelegenheit zum Nachdenken und zur Selbstreflexion, weshalb ich grundsätzlich alleine unterwegs bin.
Im Jahr 2025 wählte ich den Rappenfelsensteig als Ziel.
Ausgangspunkt
Der Ausgangspunkt meiner Pilgerreise ist der Wanderparkplatz in der winzigen Ortschaft Staufen, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen, für seine unterirdischen Gipsvorkommen berühmten, Ort bei Freiburg im Breisgau. Stattdessen befinde ich mich nahe Grafenhausen, tief im „Rothäuser Land“. Das Display des Handys zeigt exakt 10 Uhr an.
Der bis auf mein Auto verlassene Parkplatz liegt gegenüber der Herz-Jesu-Kapelle. Als ich einen Blick hinein werfe, wird mir warm ums Herz: Die Kleidung des Kirchenmannes hängt vertrauensvoll an einem Schrank im hintersten Teil der Kirche. Sofort bin ich überzeugt, dass es ein prima Ort sein muss, an dem man sich nicht vor Vandalen fürchtet.
Selbstverständlich begehe ich die Route in der empfohlenen Richtung. Anfangs führt der Pfad über Wiesen, nach dem Überqueren einer Landstraße gelangt man aber direkt in den Wald. Rasch gleicht die Umgebung einem wahrhaften Urwald.
Die Schritte des einsamen Pilgers werden vom sanften Gras absorbiert.
Die mit einer dicken Moosschicht bedeckten Felsen und die kreuz- und querliegenden Baumstämme, die ebenfalls grünlich schimmern, zeugen von Feuchtigkeit und Unberührtheit. Die Gegend wird als Biosphärengebiet ausgewiesen.
Beinahe erschrecke ich mich vor der völlig ungewohnten Ruhe. Nicht zu fassen, dass Stille in unserer hektischen Zeit zum Luxusgut geworden ist. Niemand ist zu entdecken, einsam ist es hier.
Nur die Computerstimme meiner virtuellen Begleiterin teilt mir sporadisch mit, welche Richtung ich einzuschlagen habe. Obwohl sie nur ein Fantasiegeschöpf aus Bits und Bytes ist, klingt die Stimme aus dem mobilen Computer, als hätte sie vor nicht allzu langer Zeit eine Lastwagenladung Zigaretten inhaliert. Das Gebiet ist mir völlig fremd, im Nachhinein möchte ich aber betonen, das der komplette Rundweg bestens ausgeschildert ist. Daher hätte ich auf die Kettenraucherin von Komoot verzichten können, aber hinterher ist man immer schlauer.
Dezentes Vogelgezwitscher erfreut meine Sinne, während Rauschen und Plätschern entlang der Schwarza meditativ wirken.
Nach den ersten Kilometern kritzle ich auf einem schattigen Rastplatz einen der Vorläufer dieses Textes („Rohtext“) mit Füller in mein Notizbuch. Dort treffe ich auch auf ein äusserst sportlich gekleidetes Paar. Sie erinnern mich an die unzähligen bunten Rennradfahrer, die rund um die Tour de France die Ausweichmanöver auf manchem Strässlein zum Abenteuer machen.
Bisweilen sendet ein Flugzeug hoch oben am Himmel eine Erinnerung aus der zivilisierten Welt, ein Gruß aus der benachbarten Schweiz. Zuweilen stelle ich mir vor, wohin die Menschen wohl reisen werden oder von wo sie kommen.
Während ich Notizen mache, schlürfe ich vom heissen grünen Tee. Neulich habe ich in einem „Pottcäst“ erfahren, dass dieses Getränk zu den gesündesten Lebensmitteln überhaupt gehören soll. Die fabrikneue Thermoskanne, die lockere fünf Jahre im Keller auf ihren ersten Einsatz gewartet hat, hält den Inhalt erstaunlich lange heiss. Ich erfreue mich am Slogan „keep it simple“, der das gelb-orangefarbene Behältnis verziert.
Aufstieg
Zwischenzeitlich haben sich die bisher einzigen Weggefährten in Luft aufgelöst.
Ich war so vertieft in das Schreiben, dass ich ihren Fortgang nicht bemerkt habe. Noch ein Schluck Tee und dann ziehe auch ich weiter.
Mir fällt auf, dass die Farben meines Notizbuchs (Leuchtturm 1917 mit Punkten) denen der Chilly’s-Trinkflasche ähneln. Beide sind in einem Gelborange gehalten, das in den 70ern populär gewesen sein könnte. Das passt hervorragend, da ich selbst ein Kind dieses legendären Jahrzehnts bin. Bereits vor meiner Geburt (seit 1970) wurden der Rappenfelsen und seine Umgebung dem natürlichen Gang der Dinge überlassen.
Verlief die Route entlang der Schwarza vornehmlich über Forstwege, so verändert sich die Beschaffenheit des Geländes rapide. Steile Weglein führen über Stock und Stein hinauf zum Rappenfelsen. Auf diesem Streckenabschnitt sind Gewandtheit, geeignetes Schuhwerk und Trittsicherheit unerlässlich. Bonnie hat mir für diesen besonderen Tag traditionell ideales Wetter geschickt. Bei Regen oder Schnee würde ich dringend von diesem Weg abraten. In einigen Passagen könnte es gefährlich glatt werden.
Noch weiter oben am Himmel verkündet mir ein Blick auf die Uhr 12:07. Eine Bank mit Blick auf die Schlucht inmitten des steinigen Anstiegs eignet sich perfekt für die Mittagspause. Ich packe meine Verpflegung aus: ein Stück Fladenbrot, ausnahmsweise mit Wurst und Käse belegt. Das Sonderangebot des Tages aus dem Edeka, für schlappe 4,10 EURO.
Der Felsen
Gesättigt erreiche ich über einen (für den Schwarzwald) spektakulären Pfad entlang urtümlicher Felsformationen den Namensgeber der Pilgertour: den Rappenfelsen. Das Studium des Hinweisschilds eröffnet mir, dass der Name in dieser Region nicht ungewöhnlich wäre und womöglich auf Raben (Rappen) zurückzuführen sei. Nichts Genaues weiss man nicht.
Der Felsen selbst raubt mir nicht den Atem, doch die Natur und die Aussicht drumherum sind sehenswert.
Der Pfad täuscht einen Moment an, sich gemütlich über breite Waldwege fort zu schlängeln, dann geht es erneut steil nach oben und der Wanderweg wird stellenweise zur Herausforderung. Bonnie hätte auf jeden Fall ihre Freude daran gehabt, die natürlichen Hindernisse elegant zu meistern.
Wäre man so verrückt, den Rundweg mit einem Kinderwagen in Angriff zu nehmen, würde man eine Statur wie Arnold Schwarzenegger zu seinen besten Zeiten benötigen. Kurz darauf erreiche ich einen außergewöhnlich schönen Rastplatz mit Aussicht, Sonnen- (in diesem Moment Schatten-) Liege und einer erhöht liegenden Sitzgarnitur, wo ich meinen zweiten Schreibplatz einrichte.
Wie es diesem besonderen Tag gebührt, grüsst mich der Dalai Lama höchstpersönlich von meiner Meditations-App. Seine zutreffende Weisheit lautet: „Verbringe jeden Tag etwas Zeit mit dir selbst.“
Für eine Millisekunde befürchte ich, daß mich die vermaledeite Doppeltintenpatrone im Stich lassen wird, doch das Problem lässt sich durch geschicktes Schütteln des Schreibgeräts in die Zukunft verschieben. Nach einer 7-Minuten-Meditation (Tag 101 in Folge) und mehr Grüntee bin ich gespannt, wie es weitergeht. Verblüfft bemerke ich, dass ich ohne Sehhilfe geschrieben habe und vermute, dass dieser Umstand nur dem positivem Einfluss des Dalai Lama zu verdanken sein kann. Oder meine Freundin hatte ihre himmlischen Pfoten im Spiel.
Immer noch ist die Gegend wie ausgestorben. Auf dem weiteren Weg bergauf kommt mir nur ein einsamer Wandersmann entgegen. Freundlicherweise weicht er auf dem schmalen Trampelpfad aus, jedoch ohne Gruß. Vielleicht plagt ihn sein schlechtes Gewissen. Es könnte der „Baselländer“ sein, der seinen in die Jahre gekommenen Kleinwagen trotz eindeutigem Verbotsschild mitten im Schwarzwald „parkiert“ hat, wie die Eidgenossen sagen. Nicht auszudenken, unsereiner würde selbiges in der Schweiz wagen …
Unbelehrbar checke ich den Posteingang: 13 neue Mails. Eine sehr gute Botschaft: Ochsenziemer und Rehohren für den Wolf sind geliefert worden. Mit dieser freudigen Gewissheit nehme ich den finalen Abschnitt meiner diesjährigen Pilgerreise in Angriff.
Immer weiter
Ein weiterer Wandergenosse mit komplett tätowierten Armen kommt mir entgegen. Seine Kleidung sieht nach Tischtennistraining aus. Keinen Schimmer, wie ich darauf komme – ich spiele kein Tischtennis. Freundlich grüssend ziehen wir aneinander vorbei und das Wegformat kehrt zur XL-Ausprägung zurück. Unvermittelt kommt mir in den Sinn, dass ich noch keinem einzigen Radfahrenden begegnet bin. Ich praktiziere Dankbarkeit mit dem Gedanken, dass es noch Gegenden gibt, wo Rücksichtnahme nicht nur eine hohle Floskel ist. An einem günstig gelegenen Verkehrsknoten mit Wanderparkplatz erreiche ich einen Spielplatz mit Grillstelle. Auf der Rückfahrt werde ich bemerken, dass ich bereits am Morgen an dieser Kreuzung vorbeigefahren bin.
Nach Überquerung der „Hauptstraße“ und Schleichen auf einem Schleichweg geht es im strahlenden Sonnenschein durch weitläufige Wiesen- und Feldlandschaften. Kurz bevor mich ein Traktor auf einem asphaltierten Teilstück erreicht, biege ich auf ein Weglein entlang eines Ackers ab.
Die ungewohnte Ruhe hüllt mich ein, als das Knattern des archaischen Fahrzeugs in der Ferne verklungen ist. Balsam für die von permanentem Umtrieb geplagte Seele!
Jurassic Park
Wie aus dem Nichts taucht ein Wildgehege auf, dass von einem privaten Betreiber geführt wird. Doch: wo ist das Wild? Trotz angestrengter Suche entdecken meine trüben Augen: absolut nichts. Weit und breit ist kein Tier zu erspähen. Nicht auszudenken, man wäre extra mit Kindern hierher gefahren, um ihnen Rehe und Hirsche aus nächste Nähe zu zeigen!
Immerhin gibt es vereinzelte Kühe, die auf der gegenüberliegenden Seite des malerischen Tals friedlich grasen. Das Bimmeln ihrer Glocken ist ein angenehmes Hintergrundgeräusch. Ich frage mich nicht zum ersten Mal, was die Tiere davon halten mögen.
Das wildlose Wildgehege (ich hätte den Wolf mitbringen sollen , dann hätte es zumindest ein wildes Geschöpf) bietet eine Box zur Selbstbedienung. Tierfutter (Mais) und lauwarme Getränke (Bier, süße Limonade, Spezi) stehen darin gegen einen Unkostenbeitrag bereit.
Ohne das Angebot in Anspruch zu nehmen ziehe ich weiter, da es kein Tier gibt, dem ich damit eine Freude bereiten könnte. Zugegebenermaßen sehne ich mich in der brutzelnden Sonne nach einem eiskalten Getränk. Der Nachteil meiner „brandneuen“ Thermoskanne ist, dass der Grüntee auch am Nachmittag so gut wie nichts von seiner morgendlichen Temperatur eingebüsst hat.
Grafhuse
Die überdeutliche Beschriftung an den Ruhebänken signalisiert mir, dass ich die Gemarkung von Grafenhausen erreicht habe. Die Hölzlehütte mit Sitzgarnituren und Grillstelle kommt ins Blickfeld. Alles macht einen top gepflegten Eindruck. Meinen Durst stille ich fürs erste am Brunnen bei der Hütte.
Weiter geht es über Wald- und Feldwege und mitten über eine gigantische Wiese. Kühe lassen ihre Seele im Gras liegend baumeln, ich grüsse sie freundlich.
Auf den allerletzten Metern ist der Weg geteert, ein goldener Jesus samt Gefolgschaft grüsst vom Kreuz.
Wiederum führt mich die Route an der Kirche vorbei, dann bin ich angekommen.
Während meiner Abwesenheit wurde die Terrasse beim Gasthaus Hirschen bestuhlt, doch für eine mögliche Verköstigung bin ich offensichtlich zu spät. Kein anderer Gast ist zu entdecken.
Der Wanderparkplatz bietet den abgestellten Vehikeln zwar keinerlei Schutz vor der Sonne, dafür jedoch eine Ladesäule.
Die Klimaanlage schuftet einige Minuten tapfer gegen die Gluthitze in meinem mittlerweile volljährigen Mercedes an und ich sende einen Gruß an meine Freundin ganz oben. Bis zum nächsten Jahr. Ich denke an unser Buch, das auf meiner Festplatte schlummert.
Der Rückweg führt mich durch malerische Landschaften über St. Blasien und Todtmoos nach Hause.